Natur + Reisen, Land + Leute
Jungfernstieg, Reeperbahn und Große Freiheit kennen alle, aber Hamburg hat noch viel mehr originelle und manchmal auch merkwürdige Straßennamen. Das Schulterblatt ist das Herzstück im Schanzenviertel. Am Hühnerposten teilt sich die Bahnstrecke Richtung Berlin und Hannover. Und an Vorsetzen legen die Besucher*innen ab zur großen Hafenrundfahrt. Darüber hinaus gibt es dann auch noch Ellenbogen, Siebenschön und den Durchschnitt. …Wie bitte? Den "Durchschnitt"? Der Durchschnitt ist eine kleine verborgene Straße im Hamburger Grindelviertel, ganz in der Nähe von Fernsehturm und Bahnhof Dammtor. Auf den ersten Blick ist dieser Durchschnitt durchaus durchschnittlich, mit einigen mehr oder weniger repräsentativen Alt- und Neubauten, mit seiner Lage zwischen zwei großen Hamburger Chausseen. Auf den zweiten Blick ist die kleine Wohnstraße der Ort für eine fast dörfliche Nachbarschaft in der Großstadt. Und mit ihren gerade einmal 200 Metern Länge bietet sie offenbar genug Raum für die unterschiedlichsten Menschen und Lebensformen. Angelika Hanstein wohnt und arbeitet seit über 20 Jahren im Durchschnitt. Ihre Goldschmiedelehre hat sie 1989 in Erfurt begonnen und nach der Wende im Allgäu abgeschlossen. Der Norden fehlte ihr noch. "Wir haben NDR 2 gehört in Erfurt als Kinder. Ich bekam Sehnsucht, wenn ich die Hamburger Straßennamen hörte", sagt Angelika. Heute ist der Hamburger Durchschnitt ihre Basis, hier hat sie ihre Werkstatt, von hier aus bricht sie auf, mal nur ins benachbarte Oechsle, das einzige Restaurant im Durchschnitt, mal nach Berlin, weil die Schauspielerin Meltem Kaptan nun doch Angelikas Kette tragen will, wenn sie den Silbernen Bären bekommt. War damit zu rechnen? Nein. Ändert das ihr Leben? Auch nicht. Der Schmuck ist schön, schlicht und spiegelt ihre Begeisterung, ganz gleich, ob die Kundschaft aus Berlin oder aus New York kommt. Oder aus dem Durchschnitt. Michael Wichmann ist ein Hamburger Jung. Er ist hier aufgewachsen, hat hier die Ausbildung zum Feinmechaniker gemacht und dann doch noch studiert: Maschinenbau. Und dann baute er seine erste Gitarre und machte aus dieser Leidenschaft den Beruf. Er lebte jahrelang in Spanien, baute dort Gitarren und kehrte eines Tages zurück nach Hamburg. Aber wohin? In den Durchschnitt. Die Mieten sind günstig, die Lage ist zentral. Und zum Abend kann sich Michael vor seinen Laden setzen und gucken, wer drüben im Oechsle sitzt oder selbst rübergehen auf ein Glas Wein. Jörg Pflaumbaum suchte eigentlich einen Keller, ein Lager für seinen Schallplattenhandel. Gefunden hat er einen Laden im Durchschnitt, den Filmgarten. Filme bzw. DVDs und Bücher gab es hier schon, mit Jörgs LP-Sammlung war das nicht-virtuelle Angebot komplett. Der Filmgarten ist eine Reise in die Zeit der Plattenläden und ihrer Stammkundschaft. Jörg hat alles im Regal, von Death Metal bis zu DDR-Liedermachern. Und weil er eben doch das Internet als Marktplatz nutzt, geht die Geschäftsidee längst auf. Der Durchschnitt ist eine Straße mit ihren Bewohnerinnen und Bewohnern und deren Geschichten, ein Mosaik aus Miniaturen, so lange, bis sich der mikroskopische Blick weitet: Alljährlich am Jahrestag der Reichspogromnacht zünden die Menschen im Grindelviertel Kerzen an und stellen sie vor die Häuser, in denen Jüdinnen und Juden lebten, bis sie deportiert wurden. Das ganze Viertel war jüdisch geprägt. Am Rand des Durchschnitts lag sogar der jüdische Friedhof, bevor er von den Nazis eingeebnet und als Baufläche ausgewiesen wurde. Und im 17., 18. Jahrhundert war der Durchschnitt nichts anderes als eine Abkürzung vor den Toren der Stadt, um durch die Wallanlagen schneller durchzukommen, sie zu "durchschneiden". Ein winziges Nebensträßchen ist der Durchschnitt heute, eine Nussschale in der Metropole Hamburg, nur "durchschnittlich" ist er nicht. Sondern ganz besonders.